Samstag, 22. August 2009

80% oder die lebenden Toten

In der Berichterstattung über Coco, eine Transfrau (ich schreibe bewusst nicht Transsexuelle) die vor mehr als einem Jahrzehnt grosse Medienaufmerksamkeit genoss, lass ich in einem Bericht von einer Selbstmordrate von 80% der Transsexuellen, was angeblich auf einer Studie aus Basel stammte. Desweiteren äusserte Udo Rauchfleisch, der das Behandlungssystem in der Schweiz entscheidend geprägt hat, dass laut einer Studie, die er betreut hat Transsexuelle nach der Behandlung kaum glücklich werden. (siehe Schweiz, das Land der unglücklichen Transsexuellen?)

Da Rauchfleisch zu der Zeit die entsprechende Abteilung in Basel leitete, wandte ich mich auch direkt an ihn, um diesen Aussagen auf den Zahn zu fühlen. Er antwortete dann auch dahingehend, dass ihm die Aussagen schleierhaft waren:

Keine 80% Selbstmordrate, Erfindung eines Journalisten?

Sehr geehrte Frau XXX, nach meiner über 35jährigen Erfahrung mit der Begutachtung und therapeutischen Begleitung von transsexuellen Menschen ist Coco keineswegs "exemplarisch für Transsexuelle". Zum einen gibt es nicht "die transsexuelle Persönlichkeit", sondern es sind Menschen mit den verschiedensten Lebensgeschichten und Persönlichkeitsausformungen (wie auch sonst in der Bevölkerung). Zu anderen stimmt die Angabe von einer Selbstmordrate von 80% nicht. Der Weg transsexueller Frauen und Männer ist zwar schwierig, aber keineswegs eine Gratwanderung, sondern bei entsprechender Begleitung ein Weg der Selbstfindung. Ich habe diese Fragen ausführlich in meinem Buch "Transsexualität - Transidentität" (2006) behandelt.

Mit freundlichen Grüssen, Udo Rauchfleisch

Aber es gibt ja eben die Studie, die von Rauchfleisch in einem damaligen Interview erwähnt wird und endlich habe ich ein paar Puzzleteile zusammen:
So findet sich in der Studie "Postoperative Ergebnisse bei Transsexualität
unter besonderer Berücksichtigung der Zufriedenheiteine
Nachuntersuchung" von Friederike Johanne Happich folgendes

Die 1998 veröffentlichte Untersuchung von Rauchfleisch et al. umfasst den längsten
Katamnesezeitraum von fünf bis 20 Jahren mit einer durchschnittlichen Katamnesedauer von
14 Jahren. Von 69 Patienten und Patientinnen, die zwischen 1970 und 1990 die Psychiatrische
Universitätsklinik in Basel aufgesucht hatten, konnten 13 Mann-zu-Frau und vier Frau-zu-
Mann Transsexuelle nachuntersucht werden. Das lost-to-follow-up ist –auch verglichen mit
anderen Studien- erheblich

...

Bei den retrospektiven Untersuchungen finden sich
lost-to-follow-up Raten von 21 % (Sörensen 1981) bis 81 % (Rauchfleisch 1998)

Lost-to-follow-up bedeutet hier: Man konnte die ehemaligen Patienten nicht mehr finden und das waren in der Rauchfleisch Studie 81% - und da sind sie. Nicht tot, sondern nicht mehr auffindbar, und das hat zwei Gründe:
1. Wie Rauchfleisch in oben genannten Buch erwähnt, war es lange Praxis, die Personen, die den Prozess durchlaufgen hatten, aus ihrem Umfeld zu lösen und Umsiedeln zu lassen, damit sie ihr Leben praktisch neu Beginnen - ohne Kenntnisse des neuen Umfelds bezüglich ihrer Medizinischen Vergangenheit. Kein Wunder, wenn diese dann "Deep Stealth (*)" sind, nicht mehr auffindbar sind und sein wollen.
2. Das System der schweizer Behandlung ist ziemlich traumatisierend für einige Betroffene - die wollen dann auch nie wieder etwas mit den Schändern zu tun haben.

Und dann wird es noch ganz interessant. Rauchfleisch lieferte in seiner Studie auch Weltweit die schlechtesten Zufriedenheitsdaten ab. Nicht einmal die berüchtigte CAMH / Northwestern Qulique erreichte dermassen schlechte Zufriedenheitsraten.

Ein deutlicheres Zeichen, dass mit dem Schweizer System etwas nicht stimmt, gibt es gar nicht mehr.

(*) Deep Stealth bedeutet, dass nicht einmal die engsten Freunde und teilweise Ehepartner etwas von der medizinischen Vergangenheit wissen.