Montag, 5. Januar 2009

Gastbeitrag / Kommentar von Seelenlos

Seelenlos hat einen sehr ausführlichen Kommentar zu Intergender geschrieben, der sich eigentlich gleich auf mehrere meiner Blogbeiträge bezieht und der ausserdem in der Kommentarsektion sehr schwer Lesbar wird. Er hat ihn auf meinen Vorschlag hin zum Zweck einer Veröffentlichung als Blogpost noch einmal überarbeitet:

ich persönlich betrachte die dinge von einer menschenrechtsperspektive aus (und schreibe hier auch nur für mich selbst in meinem eigenen namen und aus meinem eigenen wissen und meinen eigenen erfahrungen heraus).

ich stimme mit der genderfraktion darüber ein, dass homo-etc-phobie zu den zwangsoperationen beiträgt, und auf einer abstrakteren ebene weiter ursächlich damit zusammenhängt. genderpolitisch etwas zu ändern, das sagen aber auch die gender-exponent_innen selbst, ist eine generationenaufgabe, sprich geht SEHR LANGSAM von sich. definitiv zu langsam für die hochdringliche beendigung der zwangsoperationen an zwittern. auch gibt es zur beendigung der zwangsoperationen an zwittern weitaus effizientere politisch-(menschen-)rechtliche werkzeuge als gendertheorie oder lgbtq kampagnen.

meines wissens nach sind die zwitter, obwohl im vergleich zu LGB und allen übrigen von homophobie betroffenen menschen eine zahlenmässig verschwindend kleine gruppe – und trotzdem dabei diejenige mit den vergleichsweise meisten schwerwiegendsten menschenrechtsverletzungen ÜBERHAUPT.

weil die realexistierenden zwitter werden nicht ("nur") "emotional und psychologisch verstümmelt", sondern zusätzlich auch körperlich, und dazu ausgerechnet an den wohl empfindlichsten körperstellen.

bezüglich der art und der folgen der zwangsoperationen an zwittern bestehen nicht nur m.e. klar grössere übereinstimmungen von zwittern zum beispiel mit opfern von folter, menschenversuchen oder sexuellem kindsmissbrauch, als mit den diskriminierungen und zwängen, unter denen lgbtqs leiden. siehe auch nellas statement hier (PDF 402 kb): http://blog.zwischengeschlecht.info/public/Zwittersymbol.pdf

(sobald transsexuelle und transgender als kinder zu 80-95% an ihren "abweichenden" gehirnen zwangslobotomisiert oder sonst vergleichbar krassen zwangseingiffen unterzogen werden, hätte ich persönlich auch keine probleme, sie in der öffentlichen und politischen debatte zusammen mit den zwittern in einen topf zu schmeissen.)

die ausserordentlich krassen menschenrechtsverletzungen an zwittern stellen einen politischer notfall dar und müssen adäquat politisch angegangen werden – und dürfen klar NICHT einfach in der antihomophobie-mühle mitverarbeitet oder gar lediglich hinten angehängt werden bzw. "mitgemeint" werden.

denn: solches würde die konkrete beendigung der zwangsoperationen um jahre hinausschieben und verzögern!!!

eine politisch glaubwürdige "zwitterbewegung" (und jede andere bewegung, die das wort "zwitter", "intersexuell" usw. benutzt und glaubwürdig sein will) MUSS sich entsprechend tatkräftig konkret einsetzen für alle menschen, die aufgrund ihres zwitterseins dem risiko der genitalen zwangsoperationen, der zwangskastrationen und allen sonstigen an zwittern "üblichen" zwangsbehandlungen schutzlos ausgesetzt sind, MUSS die schnellstmögliche beendigung ebendieser zwangsoperationen an wehrlosen zwitterkindern mit höchster dringlichkeit einfordern, sowie entschädigung für die heutigen real existierenden opfer.

soviel zur menschenrechtspolitischen ebene.

auf einer anderen eben haben transexuelle und zwitter sehr wohl etwas gemeinsam – nämlich auf der medizinischen ebene die medizyner und ihr produkt: die sog. "geschlechtsangleichende" op.

zwitter wie transsexuelle haben in der regel eine solche "geschlechtsangleichende" operation hinter sich, mit grösster wahrscheinlichkeit mehrere. mit allen risiken und nebenwirkungen.

und: für beide gruppen waren die ops ein prägendes schicksal.

soviel zu dem medizinischen gemeinsamkeiten.

jedoch: wie diese "gemeinsamen" ops von den beiden gruppen wahrgenommen und eingestuft werden, hier gehen die erfahrungen und positionen m.e. überwiegend 180% fundamental auseinander:

die transsexuellen fordern lautstark in der öffentlichkeit das recht auf ops auf kasse für sich (und alle, die eine wollen) als politische forderung, und immer wieder (auch) unter berufung auf ihre hirngeschlechtlichorganischusw. "zwittrigkeit". für transsexuelle ist die op das ziel, die erlösung. neid gegen zwitter, die die von ihnen selber heissersehnten ops sozusagen "hintennachgeschmissen bekommen", und dafür nicht mal dankbar sind, existiert real.

für zwitter hingegen sind ops der grund für ihr leiden, ein trauma, ein alptraum und eine in unserer gesellschaft praktisch beispiellose, systematische, massive menschenrechtseverletzung. auch für mich als "normalen" xy ist so nachvollziehbar, dass die meisten zwitter, die ich kenne, ziemlich allergisch reagieren auf transsexuelle im allgemeinen und extrem allergisch auf die nennung von zwittern durch transsexuelle zwecks propagierung von ops.

ebenso fundamental unterschiedlich sind m.e. in den beiden gruppen die ops einzustufen in bezug auf informierte zustimmung:

zwar sind die aktuellen verfahren zur erlangung einer op für transsexuelle (tsg usw.) klar mangelhaft und bedürfen auch aus der sicht praktisch aller zwitter, die ich kenne, klar der verbesserung. für dieses ziel wäre m.e. solidaritätspotential vorhanden, auch praktisch.

trotzdem sind diese zwänge und menschenrechtswidrigkeiten gegen transsexuelle im vergleich zu den zwangsoperationen an zwittern m.e. klar weniger gravierend. von "zwangsoperationen" an transsexuellen zu sprechen und diese somit mit den zwangsoperationen an zwittern gleichzusetzen, auch das existiert real. und dagegen bin auch ich allergisch.

die menschenrechtsverletzungen an zwittern sind in den postindustrialisierten demokratien m.e. singulär gravierend.

(obwohl es auch realexistierende transsexuelle gibt, die klar opfer der medizyner geworden sind, und die verdienten aus meiner sicht vermehrte unterstützung, und da setz ich mich auch persönlich auf zwischengeschlecht.info praktisch dafür ein, siehe z.b. http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/11/20/Nachtrag-zum-Prozess-von-Sabrina-Schwanczar. sabrinas berufungsverfahren ist ja noch am laufen ... rauchfleisch ist auch aus meiner sicht eine kritikwürdige person, und nicht nur aus meiner: http://blog.zwischengeschlecht.info/?q=rauchfleisch entsprechende aktionen wären für mich unterstützungswürdig – übrigens auch ohne ihnen die eigenen parolen überstülpen zu wollen.)

die kurzfristige beendigung der zwangsoperatioenn an zwittern ist m.e. durchaus politisch machbar:

die singularität der menschenrechtsverletzungen durch die zwangsoperationen an zwittern sind m.e. DAS entscheidende argument zu ihrer schnellstmöglichen beendigung – SOFERN es endlich einmal in dieser form politisch zum thema würde.

denn die forderung nach der beendigung der zwangsoperationen ist politisch problemlos mehrheitsfähig. welcher politisch halbwegs zurechnungsfähiger mensch oder welche organisation kann heutzutage für genitale zwangsoperationen an kindern und gegen menschenrechte sein?

das problem ist vielmehr, dass die forderung nach sofortiger abschaffung der zwangsoperationen an zwittern je länger desto weniger und mittlerweile seit langen jahren praktisch ausschliesslich nur noch "lgbtq-geschenkapierverpackt" gehandelt wird. sprich in einem politisch von vornherein chancenlosen multipack, zusammen mit mit "trans*" / "queer" in einem topf unter der überschrift "revision/abschaffung des tsg / abschaffung des geschlechtseintrags". sorry, aber die menschenrechtsverbrechen an zwittern da mit reinzupacken, ist politisch m.e. mehr als fahrlässig, weil dadurch wie gesagt die beendigung der zwangsoperationen an zwittern möglicherweise um jahrzehnte aufgeschoben werden!!!

(dass vor allem transsexuelle in der öffentlichen und auch politischen debatte gern die bezeichnung "biologisch intersexuell" für sich in anspruch nehmen und als politischen kampfbegriff benutzen, werten viele zwitter als für sie verhängnisvolle selbstpathologisierung der transsexuellen, die weniger darauf basiert, dass transsexuelle sich wirklich als "intersexuell" empfinden, sondern die vielmehr als legalistische begründung dienen soll, "geschlechtsangleichende" ops an transsexuellen auch ohne tsg von der kasse bezahlt zu bekommen, sowie um das von transsexuellen als besonders belastend empfundene stigma "psychische störung" durch das als weniger belastend empfundene stigma "körperliche störung" zu ersetzen. während demzufolge die meisten transsexuellen sich gerne mit dem label "intersexuell" schmücken, finden das meines wissens nach unter den zwittern höchstens transgender-zwitter ok, während es die mehrheit der zwitter das als annektion des labels empfindet und darauf allergisch reagiert.)

zudem werden durch solche und andere unzulässige vermischungen die in öffentlichkeit und politik nach wie vor voherrschenden irrtümer noch gefördert, "intersexuell" sei ein synonym für transsexuell http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/12/06/Australien-erwagt-3-Geschlecht-Intersex-fur-Transsexuelle-und-Transgender-nicht-fur-Zwitter#c8388288 , oder es handle sich dabei um eine besondere sexuelle orientierung http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/11/05/Intersexualitat-sexuelle-Orientierung . auch die aufrechterhaltung dieser verwechslungen trägt ihren teil zur beibehaltung der unsichtbarmachung der zwitter mit bei und damit zum weiterbestehen der zwangsoperationspraxis.

zwitter und transgender:

nach allem, was ich weiss, ist es wahr, was curtis sagt: zwitter-zwitter habens in der zwitterszene unter all den dominanten weibchen-zwittern und auch männchen-zwittern nicht einfach. auch zwitter sind nur menschen, und zwitter-zwitter unter ihnen eine minderheit. soziokulturell gibts da speziell für zwitter-zwitter bestimmt ne überschneidung zu lgbtq, und alle menschen haben ein recht auf ein bekömmliches soziokulturelles biotop.

aber es gibt auch noch ne welt jenseits des eigenen tellerrandes – wichtig m.e. insbesondere in der öffentlichen und ganz speziell in der politischen debatte.

ich schätze vieles an curtis arbeit. aber ich vermisse nicht nur bei oii klar irgendwelche ernstzunehmenden, konkreten aktionen gegen medizyner oder politiker und für die schnellstmögliche beendigung der Zwangsoperationen an zwittern. vielleicht hab ich ja was verpasst, aber bisher konnte mir noch niemand etwas anderes aufzeigen.

das grösste problem der mehrzahl der zwitter sind und bleiben aktuell klar nicht genderprobleme oder -diskussionen.

das grösste problem der real in diese welt kommenden zwitter sind die an ihnen täglich weiter begangenen, handfesten medizinischen verbrechen, die endlich gestoppt werden müssen!!!

was m.e. mittel- bis langfristig durchaus auch im interesse aller trans- und genderfraktionen wäre:

kommen danach erstmal in der natürlichen häufigkeit (minus abtreibungen) intakte zwitter in die welt, wird das laut nella "die grösste Revolution aller Zeiten" sein: http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/09/17/Mit-der-Hoffnung-im-Herzen

und auch curtis spricht im namen der zwitter: "Das Vorantreiben der Sichtbarkeit und Anerkennung unserer Existenz als ein normaler und natürlicher Teil des Menschseins wird nicht nur intergeschlechtlichen Menschen nützen sondern allen die durch den herrschenden Sexismus in unserer Gesellschaft unterdrückt werden." http://gfn.twoday.net/stories/5237560/

ich persönlich sage taten sprechen lauter als worte.

(ich wollte hier ehrlich meine meinung sagen und hoffe, ich habe dabei niemanden beleidigt oder verletzt. falls doch, tut es mit leid und es war nicht meine absicht.)

seelenlos